Michael Sturminger
Jedem das Seine

Jedem das Seine

Jedem das Seine / 2007

Operetta by Silke Hassler, Peter Turrini und Roland Neuwirth

 

New production: Town Theatre Klagenfurt

Cast: Alexander Kaimbacher, Ursula Strauss, Josefin Platt, Dirk Nocker, Winnie Böwe / Evi Kehrstephan, Lukas Miko, Maximilian Achatz, Bela Koreny, Dagmar Schwarz, und Aliosha Biz.
Сonductor: Guido Mancusi.
Dramaturgy: Maja Haderlap.
Stage and Costume Designer: Renate Martin und Andreas Donhauser.
Stage Director: Michael Sturminger

Passionsspiel der Gefangenen

Mit “Jedem das Seine” behaupten Silke Hassler, Peter Turrini und Uraufführungsregisseur Michael Sturminger erst gar nicht, das Grauen darstellen zu können. Das war ihr Triumph.

Klagenfurt – Der Krieg hört nicht überall gleichzeitig auf. Als sein Ende 1945 in den Städten bereits gefeiert wurde, kostete er anderswo, vor allem am Land, noch tausende Menschen das Leben. Unter ihnen die ungarischen Juden der so genannten Todesmärsche 1944/45.

Zehntausende waren in Arbeitslagern interniert, galten aber mit dem Vorrücken der Roten Armee zunehmend als Faustpfand für Verhandlungen mit den Alliierten und wurden deshalb in Konzentrationslager getrieben.

Von einem diese Todesmärsche betreffenden fiktiven Rettungsmanöver erzählen Silke Hassler und Peter Turrini in der am Stadttheater Klagenfurt uraufgeführten Volksoperette Jedem das Seine:

Zwanzig Juden werden in Richtung Mauthausen in einem Strohstadel gefangen gehalten und dort von den Bauersleuten Fasching (Dirk Nocker, Josefin Platt) und deren Magd (Winnie Böwe) versorgt. Als Gegenleistung für rohe Kartoffeln stellen sie die Aufführung der Operette Wiener Blut in Aussicht – “den Umständen entsprechend”. Sichtbare Musik.

 

Volksoperette

Diese “Volksoperette”, ein hiermit neu erfundenes Genre, teilt der Musik eine Protagonistenrolle zu. Regisseur Michael Sturminger gestattet der aus Operettenmelodien herausgebrochenen, ernsten Musik Roland Neuwirths auch dementsprechende Optik:

 

Ein Orchester (das Kärntner Sinfonieorchester) füllt auf einer Tribüne das Portal der Stadttheaterbühne und stimmt seine Instrumente für eine bevorstehende Darbietung. Noch bevor es losgeht, steigen einzelne Musiker von den Stufen und versammeln sich stumm an der Rampe. Die Ouvertüre hebt in halber Besetzung an und erzeugt so ein erstes amputiertes Klanggebilde, eine Melodie voller Güte und Verve, jedoch halbiert!

Sturminger löst auf eine bereits im Text grundgelegte Idee hin die Figuren aus dem Musikkörper heraus: Ãœber die glitzernden Konzertkleider ziehen die Schauspieler alte Mäntel über und “spielen” rücklings (dann nach vorne gedreht) in einer schwarzen Stadl-Box (Bühne: Andreas Donhauser) weiter. Sie spielen nicht, sondern sie tasten sich zunächst über das Verlesen von Regieanweisungen an Realität und Figuren heran. In der Diskrepanz zwischen Narration (“Man hört einen Schuss”) und ihrer Darstellung (Man hört keinen) eröffnet Sturminger jenen Spielraum, der hinter die Behauptungen blicken lässt, hinter eine vorgegebene und einzuholende “Wahrheit”.

Marthaler-Arbeiten

 

Seine Erzählweise legt zugleich deren Struktur offen und damit hebt er den Text über seine Ursprungsidee hinaus. Momenthaft so brillant, dass man in den immer wieder von rätselhafter Streichermusik und Liedern in Schwebe gebrachten Szenen an Marthaler-Arbeiten erinnert wird.

 

Silke Hassler, von der es heuer noch zwei Uraufführungen geben wird, und Peter Turrini behaupten – jenseits jeder Groteske oder Farce – ein Märchen. Ein Märchen, in dem ein offenkundig antisemitischer Bauer dem jüdischen Schneider (Lukas Miko) in seinem Stadl dann doch ein Bier spendiert. Ein Märchen, in dem es für ausgemergelte jüdische Häftlinge (Alexander Kaimbacher, Ursula Strauss u. a.) nichts anderes zu tun gibt, als in Passionsspielkostümen Wiener Blut zu proben. Je mehr Hassler und Turrini behaupten, was nicht wahr sein kann, umso näher rückt es dem nicht darstellbaren Kern.

Rückwechsel

Dazu hätte es zwar der paar Tupfer Lokalkolorit (rotes Dirndl, Strohballen) nicht mehr bedurft (Kostüme: Renate Martin), und ein wenig wie “brav zu Ende geführt” wirkt auch der lang gezogene Rückwechsel in die Konzertkleidung, Details am Rande.

 

Es bleibt ein berückender Abend, in den Intendant Dietmar Pflegerl völlig zurecht investiert hat. Standing Ovations von einem hochkonzentrierten Publikum.

-MARGARETE AFFENZELLER, “Der Standard”10.03.2007